Interview
Matthias Wohlgemuth

Matthias Wohlgemuth, Kurator im Kunstmuseum St.Gallen

Seit 2018 ist die Ausstellung Wechselspiele... laufend im Kunstmuseum St.Gallen zu sehen, mit wechselndem Untertitel – zur Zeit ...mit neuen Glanzlichtern. Das Format ist das einer «permanenten» Präsentation, doch eben nicht gänzlich. Nicht statisch, in Bewegung zeigt sich die Sammlung dem Publikum. Wechselspiele also: einmal veränderte Nachbarschaften, dann Umgruppierung oder Neuhängung ganzer Säle. Verborgenes kommt ans Licht, Akzente werden verschoben – und immer mal wieder setzt eine Schenkung ein neues Highlight. Wir haben Sammlungskurator Matthias Wohlgemuth während einer Neuhängung begleitet und mehr über die Konzeption einer «wechselnden Dauerausstellung» erfahren.

Was steckt hinter dem Titel Wechselspiele – Glanzlichter der Sammlung?

Die Vorgängerausstellung, die ab Januar 2017 gezeigt wurde, hiess Endlich! Glanzlichter der Sammlung. Für den Start der Wechselspiele änderten wir also bloss den Haupttitel. Der neue Ausstellungstitel sagt dreierlei: 1. Gezeigt werden Werke aus der Sammlung des Kunstmuseums, 2. die Auswahl konzentriert sich auf wichtige Werke, auf «Glanzlichter» also, und 3. die Ausstellung will diese im spielerischen Wechsel präsentieren.

Was waren die Beweggründe, die Sammlungsausstellung im Wechsel zu konzipieren?

Die Sammlung des Kunstmuseums St.Gallen umfasst rund 15'000 Werke vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart in allen künstlerischen Medien: Gemälde, Arbeiten auf Papier, Skulpturen, Installationen, Fotos, Videos... Auch wenn es natürlich nicht alle jemals ins Licht der Ausstellungssäle schaffen, muss es doch darum gehen, dem Publikum möglichst viele der in den Depots schlummernden Arbeiten zu zeigen, aber stets auch die bekannten Hauptwerke, die zu einem St.Galler Museumsbesuch einfach gehören.

Wie unterscheidet sich diese Ausstellung von anderen Sammlungs- oder Dauerausstellungen, die bereits im Kunstmuseum gezeigt wurden?

Vor dem Auszug des Naturmuseums aus dem Kunklerbau im Jahr 2016 gab es keine Dauerausstellungen. Auch die Präsentationen grösserer Sammlungsbestände, die jährlich über die Sommermonate stattfanden, waren konzeptuell eigentlich Wechselausstellungen. Die Auswahl fokussierte jeweils ein Thema, etwa Ladies only! oder Es werde Licht..., und schloss auch zahlreiche Leihgaben sowie aktuelle Beiträge zeitgenössischer Kunstschaffender ein. Eine permanente Präsentation von Sammlungsbeständen des Kunstmuseums brachte erst 2017 die Ausstellung – Endlich!

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Impressionen aus dem Aufbau der Ausstellung Wechselspiele... mit neuen Glanzlichtern.

Mit welchen Kriterien suchst du die Kunstschaffenden, Werke oder Themenbereiche aus?

Ausgehend vom «eisernen Bestand», «obligatorischen» Hauptwerken der Sammlung, werden Gruppen gebildet, Konstellationen und Gegenüberstellungen gesucht, die chronologische, thematische, motivische oder stilistische Anschlüsse ergeben, Gemeinsamkeiten sichtbar machen oder auch spezifische Unterschiede. Noch vor dem Thema der Werke ist dabei die künstlerische Qualität das wichtigste Auswahlkriterium. Nicht selten – glücklicherweise – bietet eine bedeutende Erwerbung oder Schenkung den Anlass für eine teilweise Neuhängung einzelner Wände oder ganzer Ausstellungskojen.

Welche Kunstwerke wurden durchgehend gezeigt?

Eine ganze Reihe, darunter vor allem die international bedeutenden Hauptwerke der St.Galler Sammlung. Ich nenne aus jedem Jahrhundert mindestens eines: die Skulpturengruppe der Marienkrönung (um 1500) von Heinrich Iselin, ein spätgotisches Meisterstück aus der Bodenseeregion, das Bildnis des Balthasar von Kerpen (um 1535) von Bartholomäus Bruyn, ein Hauptwerk der Kölner Renaissance, das Jahreszeitenpaar Sommer und Winter (1615) von Esaias van de Velde, klein, aber fein und eines der ersten Beispiele eigenständiger holländischer Landschaftsmalerei im sog. Goldenen Zeitalter, die Dornenkrönung Christi (um 1650) von Carlo Maratta, ein Frühwerk des Hauptmeisters des klassizistischen römischen Barocks, die Büssende hl. Magdalena (1763–64) von Gaetano Gandolfi, Bravourstück der Hell-Dunkel-Malerei aus dem italienischen Spätbarock, die Odalisque (um 1871/73) von Camille Corot, eines der besinnlichen Frauenbilder des Vor-Impressionisten und zugleich ein exemplarisch gelöster Raubkunst-Fall, das Breithorn (1911) von Ferdinand Hodler, eine Ikone der stilisierten Naturüberhöhung um 1900, die Fantasia coloristica (1913) von Augusto Giacometti, eines der international frühesten Beispiele gegenstandsloser Malerei...

Welches Kunstwerk ist ein Schlüsselbild der Ausstellung?

Natürlich nehmen mehrere Werke im Ablauf der Ausstellung an ihrem jeweiligen Ort eine Schlüsselstellung ein. Ich beschränke mich hier auf ein einziges Gemälde, das nicht nur die Krönung unserer Werkgruppe des Impressionismus bildet, sondern vielleicht der ganzen St.Galler Sammlung: Palazzo Contarini, Venedig (1908) von Claude Monet. Es ist ein Hauptwerk eines Hauptmeisters einer Hauptrichtung der Kunstgeschichte und die beste, radikalste, zukunftsweisendste Lösung seiner venezianischen Fassadenbilder!

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Impressionen aus dem Aufbau der Ausstellung Wechselspiele... mit neuen Glanzlichtern.

Wie hat sich die Ausstellung seit Beginn verändert?

Zum Zeitpunkt der Eröffnung von Wechselspiele – Glanzlichter der Sammlung im März 2018 belegte die Ausstellung das gesamte Erdgeschoss des Kunklerbaus. Das bedeutete, dass sich in den Nordsälen die Werkauswahl bis weit ins 20. Jahrhundert fortsetzen konnte: von der internationalen Klassischen Moderne (Kirchner, Klee, Léger, Taeuber-Arp) über die Zürcher Konkreten um Max Bill bis zum Schlusspunkt Andy Warhol. Zudem war der Ostraum den fotografischen Selbstinszenierungen von Urs Lüthi, einer Position der Gegenwartskunst also, vorbehalten. Im Mai 2018 übernahm dann die Ausstellung Maria Lassnig die Nordsäle, die seitdem wieder mit unterschiedlichen Wechselausstellungen bespielt werden.

Im Zuge der Verkleinerung der Wechselspiele... wurden punktuell in allen Räumen Um- und Neuhängungen vorgenommen, insbesondere aber im grossen Mittelsaal, der dann für die laufende Präsentation ...mit neuen Glanzlichtern noch eine zusätzliche Stellwand erhielt. Hier wurden zwei Kojen neu eingerichtet – gewissermassen als kleine Ausstellung innerhalb der Ausstellung. Sie vereinen altmeisterliche Werke von der Spätgotik bis zum Spätbarock, allesamt grosszügige Schenkungen aus den letzten Jahren, die hier gebührend gefeiert werden sollen. Zu sehen sind Lindenholzfiguren aus Süddeutschland, darunter als Premiere der Heilige Ägidius mit der Hirschkuh (um 1530/35), ein wichtiges Spätwerk des grossen Ulmer Bildschnitzers Daniel Mauch. Gegenübergestellt sind druckgrafische Blätter von Schongauer und Dürer sowie Porträts aus Köln und Florenz. Federico Baroccis grossartiger Kopf des hl. Sebastian (1590–95) leitet über zur Koje mit Charakterdarstellungen: Hier lassen sich Nuancen des Gesichtsausdrucks studieren und vergleichen bei Menschen verschiedenen Alters, wie sie italienische und niederländische Künstler vom 16. bis 18. Jahrhundert in meisterlichen Kopfstudien festgehalten haben.

Wie lange werden die Wechselspiele... noch gezeigt?

Die vorerst letzte Folge unter dem Titel Wechselspiele... mit neuen Glanzlichtern dauert noch bis 7. März 2021. Das Misch-Konzept einer chronologisch-thematischen Ausstellung, die vor allem ältere, klassische Kunst präsentierte, wird dann abgelöst durch ein Konzept, das ein spezifisches Thema fokussiert: Blicke aus der Zeit (ab 27. März 2021). Wiederum werden Werke aus der Sammlung des Kunstmuseums zu sehen sein, doch beschränkt sich nun die Auswahl auf die Ikonografie des menschlichen Blicks. Die Besuchenden erwartet ein spannender Parcours von Selbstbildnissen, Porträts und Figurenbildern vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart und in allen künstlerischen Techniken, einschliesslich der neuen Medien.

Ob danach wieder Wechselspiele... stattfinden werden, das soll ab 2022 meine Nachfolge im Sammlungskuratorium entscheiden!

Interview: Sophie Lichtenstern und Gloria Weiss, Kunstmuseum St.Gallen und Kunstverein St.Gallen
Mehr zur Ausstellung Wechselspiele... mit neuen Glanzlichtern auf der Website des Kunstmuseums St.Gallen.

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Die Ausstellung Wechselspiele... mit neuen Glanzlichtern im Kunstmuseum St.Gallen

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