Interview
Lorenz Wiederkehr Portrat sw

Das Kunstmuseum St.Gallen widmet Geta Brătescu (1926–2018) als erstes Schweizer Museum eine retrospektiv angelegte Ausstellung. Der Titel folgt einem Zitat der Künstlerin: L’art cest un jeu sérieux. Die Ausstellung war ursprünglich für den Zeitraum 25. April bis 20. September 2020 geplant, die Eröffnung am 24. April. Aufgrund der Schliessung der Museen musste die Eröffnung der Ausstellung auf den 8. Juni verschoben werden.

Im Gespräch mit dem Kurator Lorenz Wiederkehr möchten wir einen Blick hinter die Kulissen werfen: Was muss bei der Vorbereitung einer Ausstellung beachtet werden – vor allem in Ausnahmesituationen wie diesen?

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Geta Brătescu, Installationsansicht Kunstmuseum St.Gallen, Foto: Sebastian Stadler

Wie bist du auf die Künstlerin Geta Brătescu aufmerksam geworden und warum widmet das Kunstmuseum St.Gallen genau dieser Künstlerin eine Ausstellung?

LORENZ WIEDERKEHR: Aktiv wahrgenommen habe ich das Werk von Geta Brătescu erstmals 2017 an der Biennale in Venedig. Dort konnte sie – ein Jahr vor ihrem Tod – als erste Frau den Pavillon ihres Heimatlandes Rumänien gestalten. Die Präsentation hat mich sowohl aufgrund meiner fachlichen Interessensschwerpunkte als auch wegen des überwältigenden visuellen Erlebnisses – der Vielschichtig- und Hintergründigkeit ihrer Kunst – stark beeindruckt. Dass das Kunstmuseum St.Gallen als erstes Museum in der Schweiz ihrem Werk eine retrospektiv angelegte Ausstellung widmet, hat mich aus diesem Grund umso mehr gefreut.

Geta Brătescu gilt heute als eine der wichtigsten Avantgardistinnen Osteuropas. Obwohl ihr Werk formal und inhaltlich Gemeinsamkeiten zu vielen wichtigen amerikanischen und europäischen Künstlern ihrer Generation aufweist, war es in der Schweiz bis vor kurzem einzig einem ausgewählten Kreis von Sammlerinnen und Galeristen bekannt. Ein Grund dafür ist, dass die internationale Debatte der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lange hauptsächlich aus einer amerikanischen oder westeuropäischen Perspektive diskutiert wurde. Happening, Fluxus, Pop Art, Op Art, Minimal Art, Conceptual Art, Performance, Body Art, Land Art, Environmental Art sind die Schlagworte mit denen die Künstlergeneration der späten 1960er und 1970er Jahre bezeichnet werden. Diese Generation ist aus den Errungenschaften der klassischen Moderne hervorgegangen und hat mit diesen gebrochen. Sie erweiterte den Kunstkanon im Sinne neuer materieller und technischer Möglichkeiten, was zu einer reichen Fülle zeitgenössischer Freiheitsgrade führte. Als Begriff für diese Künstlergeneration hat sich jener der «Neo-Avantgarde» etabliert.

Insbesondere im Bereich der Minimal- und Postminimal Sculpture sind diese Künstlerpositionen im Kunstmuseum St.Gallen hervorragend vertreten. Zusammen mit dem Kunstmuseum Liechtenstein in Vaduz und dem Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main beherbergt das Kunstmuseum seit 2006 die ehemalige Sammlung Rolf Ricke. Geplant war nun, das Werk von Geta Brătescu in einen Dialog mit ebendieser Sammlungstradition treten zu lassen. Es sollte darum gehen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufzuzeigen und der Öffentlichkeit neu zur Diskussion zu stellen. Auch wenn Geta Brătescu zu Lebzeiten Kritikerinnen und Kritikern, die sie als Künstlerin einer Neo-Avantgarde zu deuten versuchten, eine Absage erteilt hat, ist die Nähe zu den hierfür charakteristischen Themen unübersehbar.

Nachdem das Kunstmuseum 2018 die ebenfalls retrospektiv angelegte Ausstellung zum Werk von Maria Lassnig präsentierte, wird 2020 mit Geta Brătescu eine weitere weibliche Position vorgestellt, die für die internationale Diskussion in der bildenden Kunst seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts von zentraler Bedeutung ist. Nicht zuletzt ist es der differenziert-spielerische Umgang mit Farbe und Form – auf den sich ausserdem auch der Titel der Ausstellung L’art c’est un jeu sérieux bezieht – welcher den St.Galler Designer Albert Kriemler 2019 zu seiner atemberaubenden Sommerkollektion für das Modehaus Akris inspirierte. Ein weiterer glücklicher Umstand, der einen Bezug der Künstlerin zur Textilstadt St.Gallen herstellt.

Was erwartet die Besucherinnen und Besucher in der Ausstellung?

LW: Die Ausstellung beabsichtigt, Geta Brătescus experimentelles Werk im Überblick über eine Zeitspanne von mehr als vier Jahrzehnten kreativen Schaffens abzubilden. Die Präsentation umfasst eine grosse Varietät von Kunstwerken. Es handelt sich um umfassende Serien, die die Medien der Zeichnung, der Collage, der Fotografie, des Objekts, der Skulptur und des Videos beinhalten. Sämtliche Werke sind für das Verständnis von Geta Brătescus konzeptionellem Zugang zur Abstraktion und dem politischen Potenzial des Bildes von zentraler Bedeutung.

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Geta Brătescu, Installationsansicht Kunstmuseum St.Gallen, Foto: Sebastian Stadler

Mit welchen Kriterien hast du dich auf die Werke beschränkt, die ausgestellt werden sollen?

LW: Ausgehend von meinen fachlichen Interessensschwerpunkten habe ich mich zunächst mit den Werken aus den 1970er und 1980er Jahren eingehend beschäftigt. Wie gesagt ist Geta Brătescu in dieser Zeit als Teil der Ausdrucksweise der zeitgenössischen internationalen Avantgarde neu zu entdecken. In den 1970er Jahren wird ihr kleines Atelier in Bukarest zum Thema ihrer zutiefst persönlichen künstlerischen Praxis. Die Erforschung des Ichs wird zum Gegenstand von Performances, die in mit der Videokamera aufgezeichneten Studio-Happenings und fotografischen Serien von Selbstbildnissen festgehalten werden. Weiter entstehen in dieser Zeit Collagen und Installationen aus weichen sowie zerbrechlichen Materialien. Diese sind mit der skulpturalen Wirkung von Werken des Postminimal und der Anti-Form, wie sie beispielsweise Eva Hesse entwickelte, vergleichbar. Inhaltlich verweisen diese Werke nicht selten auf materielle Mängel und den gesellschaftlichen Druck auf das Leben des Einzelnen. Oder aber sie thematisieren Fragen nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer Kunst stattfindet.

Neben diesen Werken, mit denen Geta Brătescu die entscheidenden Punkte der künstlerischen Debatten ihrer Zeit trifft, waren es die Werkgruppen aus den 1990er und 2000er Jahren, die mich extrem faszinierten. Es handelt sich um Leporellos und Collagen, denen aufgrund ihrer spielerischen Farb- und Formensprache auf den ersten Blick eine narrative Dimension zu fehlen scheint. Trotzdem zeigen sie Geta Brătescus spielerisch-ernsten Umgang mit der Freiheit des künstlerischen Ausdrucks. Basierend auf dem Prinzip der Serie, der Repetition, des Aneinanderreihens und Überlagerns können diese Werke als eine kritische Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Schaffen und dem Projekt der Moderne verstanden werden. Es handelt sich um Prozesse des Durchdeklinierens eines Formrepertoires, in dem sich die subjektive Erfahrung von Geschichte und Erinnerung widerspiegelt.

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Geta Brătescu's studio, Bucharest, 2015, Foto: Ștefan Sava

Was musste bei den Vorbereitungen insbesondere für eine Ausstellung mit Brătescu beachtet werden?

LW: Die Ausstellung wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Kunstforeningen GL STRAND in Kopenhagen und dem Estate der Künstlerin konzipiert. Vertreten wird dieser durch die Ivan Gallery in Bukarest und die Galerie Hauser & Wirth. Gerade bei internationalen Kooperationspartnern ist Vertrauen, Fingerspitzengefühl und Diskretion von enormer Bedeutung. Dies setzt viele Gespräche, Nachrichten und auch mehrere Reisen voraus. Gedanken müssen geordnet, zugespitzt und klar formuliert werden. Die Zusammenarbeit mit sämtlichen Beteiligten war äusserst angenehm. Für das Wohlwollen, die wertvollen Informationen und die kompetente Unterstützung des Projekts möchte ich mich bei sämtlichen Beteiligten von ganzem Herzen bedanken.

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Geta Brătescu, Installationsansicht Kunstmuseum St.Gallen, Foto: Sebastian Stadler

Wie kann man sich den Alltag eines Kurators vorstellen – wie sah beispielsweise ein «typischer» Vorbereitungstag für diese Ausstellung aus?

LW: Neben der inhaltlichen Arbeit und dem persönlichen Engagement für ein solches Projekt bedeutet die Vorbereitung einer Ausstellung viel Koordination und Organisation. Teamarbeit und Sozialkompetenz sind dabei sehr wichtig. Insgesamt sollten in der Ausstellung über 50 Werke präsentiert werden, die aus drei Kontinenten nach St.Gallen angeliefert worden wären. Nach der Konzeptarbeit ging es also darum, Leihverträge aufzusetzen, Versicherungszertifikate anzufordern, Zustandsprotokolle zu schreiben und Transporttermine zu organisieren. Weiter mussten Hängungsskizzen erstellt werden und die Möglichkeiten ihrer technischen Umsetzung diskutiert und überprüft werden. Und nicht zuletzt musste die Auswahl des Bildmaterials für die Öffentlichkeitsarbeit diskutiert und bereitgestellt werden – Texte wurden geschrieben und Layouts für Broschüren und Plakate erstellt.

Welchen Einfluss hat die aktuelle Situation auf die Ausstellung?

LW: Am Freitag bevor der Bund den Lockdown für die Schweiz beschlossen hatte, habe ich die letzten Zusagen für wichtige Kunstwerke in der Ausstellung erhalten. Ebenfalls hat mir unser Grafiker an diesem Tag das Gut zum Druck für den Folder und das Poster zugestellt. Nun ist alles anders. In Anbetracht der grossen Veränderungen, die auf uns zukommen werden, relativiert sich jedoch einiges. Die Ausstellung wird verschoben. Dies gibt uns Zeit, Dinge zu überdenken und anzupassen. Wir müssen Gedanken ordnen, verbalisieren, Argumente und Gegenargumente neu diskutieren, zuspitzen und klar kommunizieren. Wichtig ist mir, dass die Ausstellung auf jeden Fall stattfindet. Nach einer Zeit der Vereinzelung ist das Zusammenkommen und die gemeinsame Erfahrung von Kunst im Original von grosser Bedeutung. Aktuell geht es darum – in einer Zeit der virtuellen Bildüberreizung – unsere eigene Bildkompetenz zu beweisen, mutig zu sein und Ängste zu überwinden.

Was sind aktuell die neuen Herausforderungen für dich als Kurator?

LW: Nachdem es nun vom zeitlichen Ablauf her dazu gekommen wäre, die Ausstellung physisch einzurichten – die Kür der kuratorischen Arbeit sozusagen – war es in den vergangenen Tagen extrem wichtig, transparent und klar mit sämtlichen Beteiligten zu kommunizieren. Die Arbeit von zu Hause war und ist eine Herausforderung. Sie beinhaltete wiederum viele Gespräche und Nachrichten. Es ging darum Termine abzusagen, neue zu vereinbaren und alternative Möglichkeiten der Präsentation von Kunst zu finden.

Wie reagieren die Leihgeberinnen, Leihgeber und Institutionen, mit denen du eng zusammenarbeitest auf diese Situation?

LW: Die gute Vorbereitung zahlt sich aus. Wir können auf grosse Solidarität und Wohlwollen zählen. An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal ganz herzlich bei sämtlichen Beteiligten bedanken. Ich freue mich, wenn wir diese aussergewöhnliche Ausstellung in dieser aussergewöhnlichen Zeit bald gemeinsam eröffnen können.

Kurator: Lorenz Wiederkehr, Kunstmuseum St.Gallen
Interview: Sophie Lichtenstern und Gloria Weiss, Kunstverein und Kunstmuseum St.Gallen
Zur Ausstellung Geta Brătescu – L’art c'est un jeu sérieux

15 Ritual Books 1991 Detailansicht Foto Sebastian Stadler

Geta Brătescu, Cărți ritualice [Rituelle Bücher | Ritual Books], 1991, Detail, Foto: Sebastian Stadler

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