Dr. Arnd Bünker ist Theologe und Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts, SPI, in St.Gallen. Im Gespräch mit der Kuratorin Nadia Veronese erläutert er den Besucherinnen und Besuchern während eines gemeinsamen Rundgangs seine Assoziationen im Zusammenhang mit der Präsentation der Künstlerin Siobhán Hapaska. Im Vorfeld hat sich Bünker mit der Künstlerin über ihre Erlebnisse im katholischen Irland, ihre Werke und die Installation in der Kunstzone der Lokremise ausgetauscht– und versucht, diese aus der Sicht eines Pastoralsoziologen und Theologen, wie er sich selbst bezeichnet, zu deuten.
Arnd Bünker während des Kunstgesprächs vom 25. August 2020. Foto: Markus Mosmann.
Die Gruppe von Besuchenden steht am Empfang der Kunstzone und wird durch Arnd Bünker und Nadia Veronese begrüsst. «Mich haben an der Ausstellung die Geräusche, das Zittern, diese Beunruhigung fasziniert», beginnt Bünker, als er auf den Grund seiner Zusage für das Kunstgespräch zu sprechen kommt. Als Erstes sind ihm die drei in der Luft hängenden und festgezurrten Olivenbäume aufgefallen, die durch an ihnen montierte Motoren in Bewegung versetzt sind: „So geht man doch nicht mit Bäumen oder mit dem Leben um, dachte ich mir zuerst“. Beim näheren Betrachten der Ausstellung erschliesst sich Bünker langsam die ganze Welt, die Hapaska in der Kunstzone installiert hat. Er liest die Ausstellung als Geschichte mit rotem Faden: «Ich sehe hier nicht einfach nur Einzelarbeiten, sondern ein Gesamtes, eine Anordnung». Gemeinsam mit dem Theologen und der Kuratorin begeben sich die Besuchenden entlang dieses roten Fadens.
«Die Künstlerin konnte sich zwischen Ausstellungsräumen im Kunstmuseum St.Gallen und der Kunstzone in der Lokremise entscheiden», erzählt die Kuratorin. «Als Siobhán Hapaska in diesen Räumlichkeiten stand, war ihr sofort klar – sie möchte hier ausstellen», so Veronese. Der grosszügige Raum lässt eine übergreifende Installation zu und die einzelnen Plastiken fügen sich in einem «spannungsgeladenen» Setting ein.
Foto: Markus Mosmann
Olive Trees (2020) wurde als erstes installiert. Die Olivenbäume sind mit Spanngurten festgezurrt, an bereits bestehenden Haken des ehemaligen Ringdepots für Lokomotiven, denn «das waren die Vorgaben vom Denkmalschutz», erzählt Veronese. Die Bäume und Spanngurte segmentieren den Raum und geben Orte für die anderen Plastiken vor.
Bei den beiden Plastiken zu Beginn der Ausstellung Snake, Apple, Tree (2018) und Snake and Apple (2018) erinnert sich Bünker an das Gespräch mit der Künstlerin und ihre Anekdote aus der Schulzeit: Der in der Bibel beschriebene Sündenfall hat sie sehr geprägt und irritiert. Als sie kritisch nachfragte, warum es ein Sündenfall sei, vom Baum der Erkenntnis zu essen und Erkenntnis zu erlangen, wurde dies nur mit Sanktionen beantwortet. Für Bünker ist der Sündenfall eine Geschichte des Erwachsenwerdens: «Es geht um eine Emanzipationsgeschichte. Ursprünglich gab es keinen Widerstand im Paradies – man tut einfach das, was Papa sagt. Es gibt dort nur eine Regel, nicht von dem Baum zu essen – und die wird gebrochen. Das machte Adam und Eva die Augen auf, sie können – wie Gott – Gut und Böse unterscheiden, und erhalten nicht nur Wissen, sondern eben Erkenntnis. Die Erkenntnis ist das Ende paradisischer, fragloser, Geborgenheit. Adam und Eva werden aus dem Paradies verbannt. Dabei hat Eva kirchengeschichtlich und gesellschaftspsychologisch deutlich mehr gelitten, sie hat eine andere Rolle in der Geschichte und dadurch auch andere Konsequenzen zu ertragen. Es ist auch der Beginn einer patriarchalen Geschichte. Wir stehen also hier im Eingangsbereich an der Kante des Paradieses und verlassen dieses nun und begeben uns auf die Erde – und dort herrscht Chaos.»
Die Motoren an den Olivenbäumen werden durch einen Bewegungssensor aktiviert, die Äste beginnen heftig zu zittern. Ein lautes Rascheln erfüllt die Kunstzone. «Für mich repräsentieren diese hilflosen Olivenbäume die Welt. In dieser Welt ist man als Mensch Verursacher und Verursacherin, man muss sich an die Begebenheiten anpassen, nicht alles ist begehbar, es ist festgezurrt, man muss sich bücken, es gibt Hindernisse. Dann ist da diese metaphysische Erschütterung der Bäume. Die Welt gerät aus den Fugen – sie hängt in den Seilen, aber nicht gemütlich, sondern gespannt. Mich beschäftigt immer die Frage, wie lebt man jenseits der paradiesischen Geborgenheit? Woher nimmt man sich die Hoffnung, wenn man das Paradies nicht mehr hat?», so Bünker.
Bei dem Material der Werkgruppe Touch, Love und Bird (2016) handelt es sich um Betongewebe, das für elementare Notunterkünfte eingesetzt wird. Für Bünker zeige Hapaska mit der Plastik-Reihe «menschliche Strategien in der gespannten Welt» auf – «menschliche Ohnmacht, aber auch den Zusammenhalt in Situationen des Scheiterns». Vor dem Werk Love (2016) hält Bünker inne und erläutert seine ersten Assoziationen mit dem Werk: Das leuchtende Rot zwischen den beiden Figuren erinnert ihn an ein Vogelnest und junge Vögel, die mit offenen Schnabel Hunger signalisieren. Die Konstellation erinnert ihn aber auch an eine Mutter-Kind-Beziehung, Zuneigung. «Damit assoziiere ich Situationen, die wir in den Medien im Zusammenhang mit Flüchtlingscamps aktuell zu Gesicht bekommen. Häufig sind es Fotos von Familien in dieser kalten grauen Welt. Das Rot in der Plastik gibt Kraft und leuchtet.» Genau in diesem Moment als die Gruppe vor dem Werk steht, scheint die Sonne auf die Plastik und lässt das Rot zwischen den beiden Figuren erstrahlen.
«Stand die Mutter schmerzerfüllt am Kreuz», führt Bünker die Gruppe in das nächste Werk ein. Das Werk Touch (2016) assoziiert der Pastoralsoziologe mit der verhüllten und um ihren gekreuzigten Sohn trauernden Maria. Auch die Materialität dieses Werks basiert auf Betongewebe, das Innere der Plastik hat die Künstlerin mit Kunstfell ausgekleidet. «Das Fell macht die Plastik nicht kalt. Sie zeigt damit auch Nähe und Behaglichkeit auf, ist aber in dem Beton eingekrempelt – sozusagen harte Schale, weicher Kern», bemerkt Bünker, wobei er den Begriff «Hold» als Werktitel hier als passender empfindet.
«Die Künstlerin erarbeitet normalerweise zuerst ein klares Konzept und sucht erst im Nachgang das Material dazu», erklärt Veronese, «bei dieser Werkserie ist sie von diesem Prinzip abgewichen – das Gewebe war vorgebend: In Wasser getränkt ist es formbar und härtet danach – wie Beton – langsam aus.»
Die Gruppe steht unter einer einer Sanktuarlampe ähnelnden und leuchtenden Plastik Hapaskas. Die Notlampe assoziiert Bünker zunächst mit einem Rettungswagen: «Sieht man einen leuchtenden Rettungswagen, denkt man sich, dass etwas Schlimmes passiert ist – die Rettung aber schon da ist. Das kann ein Gutes, aber auch ein schlechtes Zeichen sein. Ist das schon die Lösung oder noch das Problem?». Entgegen des Werktitels Earthed (2018) empfindet Bünker das Werk alles andere als «erdend». Die Plastik und das Kabel der Lampe hängen in der Luft, «es ist also keine klare Sicherheit da».
Foto: Markus Mosmann
Ein intensiver Sonnenuntergang am Horizont, den Hapaska auf einer abendlichen Autofahrt beobachtete, war der Ausganspunkt für Winter Sun at 19:48 hrs (2017). In der Gesamtinstallation repräsentiert dieses Werk für Bünker die Naturwunder und besonderen Momente, die uns Menschen zwar nicht zurück ins Paradies versetzen können, aber immerhin in eine andere Welt: «Bei Naturwundern denken sich viele Menschen, da muss ja eine Schöpferkraft dahinterstehen. Die Wintersonne ist aber auch hier im Käfig und dazu noch in einem nicht sehr schönen – er oxidiert, er verstellt die Sonne. Es gibt das Rettende in der Welt, aber es ist verstellt und verbaut.» Auch das gehöre gemäss Bünker zur Geschichte des Erwachsenwerdens – «man sieht immer Schwierigkeiten, aber auch die Hoffnung».
Das letzte Kunstwerk, auf das Bünker und Veronese zu sprechen kommen, trägt den Titel Four Angels (2021). Die vier farblosen, leuchtenden Kristalle sind aus Selenit. Hapaska erklärte im Vorfeld, dass dem Mineral die Fähigkeit nachgesagt wird, Engel anzuziehen, und es daher in einem esoterischen Zusammenhang gesehen werden kann. «Engel haben gerade Konjunktur», so Bünker. Er stellt fest, dass Engel aktuell nicht nur im kirchlichen Zusammenhang häufiger gefragt sind, sondern auch ihren Weg in diverse Läden gefunden haben: «Engel scheinen den Leuten sehr wichtig zu sein. Sie sind Zwischenwesen. Ähnlich wie bei den Bildnissen der Maria, die ebenfalls sehr gefragt sind, liegt das vermutlich daran, dass Engel und auch Maria den Menschen näher erscheinen als der grosse Gott. Für mich ist das eine zeitgenössische Repräsentation für Glaube. Auch dieses Werk steht für ein gemachtes Hoffnungsobjekt, man sieht das Stromkabel, das die Steine beziehungsweise die Engel zum Leuchten bringen».
Foto: Markus Mosmann
Bevor Bünker den Rundgang abschliesst, weist er die Teilnehmenden darauf hin, dass die Gruppe und das letzte Werk sich genau «gegenüber dem Paradies» befindet und fasst zusammen: «Es ist ein quasi kirchlicher Raum, den Hapaska geschaffen hat, ein säkulärer Kirchenraum. Es hat etwas Christliches, aber auch Gegenpole. Die Künstlerin macht uns damit ein Angebot, man sieht lebenswerte Elemente innerhalb einer chaotischen Welt in der Ausstellung, wenn auch ironisch und humorvoll».
Kuratorin: Nadia Veronese, Kunstmuseum St.Gallen
Text: Gloria Weiss, Kunstmuseum und Kunstverein St.Gallen
Zur Ausstellung Siobhán Hapaska